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Loriot, Advent – Eventus adventualis Loriotinus

Latine vertit Ingrides Thiel Iuliacensis.
Quelle: Forum Classicum 2006 (3),240f.
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Loriot, Advent
Es blaut die Nacht, die Sternlein blinken
Schneeflöcklein leis hernieder sinken.
Auf Edeltännleins grünem Wipfel
häuft sich ein kleiner weißer Zipfel.
Eventus adventualis Loriotinus
Livescit1 nox et micant stellae,
caduntque plumae nivis bellae,
quae augent pini cacumina
alba parva lacinia.2

Und dort vom Fenster her durchbricht
den dunklen Tann ein warmes Licht.
Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer
Die Försterin im Herrenzimmer.
Lux fovens e fenestra illa
in silva visa est tranquilla.
Hic saltuarii3 uxorem
vides per cerei splendorem.
Moratur nixa genibus
mariti in conclavibus.

In dieser wunderschönen Nacht
hat sie den Förster umgebracht.
Er war ihr bei des Heimes Pflege
seit langer Zeit schon sehr im Wege.
In nocte hac pulcherrima
maritum privat anima.
Uxori, cum domum purgabat,
iam dudum graviter obstabat.

So kam sie mit sich überein:
am Niklasabend muss es sein.
Und als das Rehlein ging zur Ruh,
das Häslein tat die Augen zu,
Idcirco secum cogitat:
Ipsa vigilia4 fiat
diei Nicolai festi,
qua traha5 advenit caelesti.
Obdormit iam capreolus,6
nidum petit lepusculus,

erlegte sie direkt von vorn
den Gatten über Kimm’ und Korn.
Von Knall geweckt rümpft nur der Hase
zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase,
maritum cum illa aspexit
et recta via cor transfixit.
Leporem fragor7 excitat,
nares scrutantes8 corrugat,9

und ruhet weiter süß im Dunkeln,
derweil die Sternlein traulich funkeln.
Und in der guten Stube drinnen,
da läuft des Försters Blut von hinnen.
tum umbrae noctis eum velant
et stellulae10 amice micant,
cum cruor in cubiculo
stillat e saltuario.

Nun muss die Försterin sich eilen,
den Gatten sauber zu zerteilen.
Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen
nach Waidmanns Sitte aufgebrochen.
Uxori nunc est festinandum
ad virum rite11 dissecandum.
Effregit12 more venatoris
truncum13 et ossa paucis horis.

Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied,
(was der Gemahl bisher vermied),
behält ein Teil Filet zurück,
als festtägliches Bratenstück
Membrum in membro posuit,
quod vivus ille noluit,
et partem carnis asservat,
ut assum14 festum comedat.

und packt zum Schluss, es geht auf Vier,
die Reste in Geschenkpapier.
Da tönt’s von fern wie Silberschellen,
im Dorfe hört man Hunde bellen.
Et quae restant – vigilia quarta –
ut dona ligat fascia arta.15
Tum procul tintinnabula16
circumsonant argentea.
In vico, ut respondeant,
canes solliciti17 latrant.18

Wer ist’s, der in so tiefer Nacht
im Schnee noch seine Runde macht?
Knecht Ruprecht kommt mit goldnem Schlitten
auf einem Hirsch herangeritten!
Quis per nocturnas tenebras
pervolat nives gelidas?
Aurata traha vehitur
Rupertus; cervo trahitur.

“He, gute Frau, habt Ihr noch Sachen,
die armen Menschen Freude machen?”
Des Försters Haus ist tief verschneit,
doch seine Frau steht schon bereit:
»Heus domina, habesne res,
quibus laetentur pauperes?«
Domus est nivibus velata,
sed domina iam est parata:

“Die sechs Pakete, heil’ger Mann,
‘s ist alles, was ich geben kann.”
Die Silberschellen klingen leise,
Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise.
»Heus tu, sex fasces19 habeo,
quibus facile careo.«
Mox lene tintinnabulum;
Rupertum aufert cisium.20

Im Försterhaus die Kerze brennt,
ein Sternlein blinkt – es ist Advent.
In domo saltuarii
lucent adventus cerei.

  1. livescere – blauen
  2. lacinia – Zipfel
  3. saltuarius – Förster
  4. vigilia – hier: Vorabend
  5. traha – Schlitten
  6. capreolus – Rehlein
  7. fragor – Knall
  8. nares scrutantes – Schnuppernase
  9. corrugare – rümpfen
  10. stellula – Sternchen
  11. rite – ordentlich
  12. effringere – aufbrechen
  13. truncus – Rumpf
  14. assum – Braten
  15. fascia arta – strammes Band
  16. tintinnabulum – Glöckchen
  17. sollicitus – wachsam
  18. latrare – bellen
  19. fasces – Bündel
  20. cisium – Reisewagen