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Lingua Latina vivit

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung
vom 29. August 2012 — PDF

Schulen registrieren eine neue Lust an der alten Sprache

Englisch natürlich, Französisch und Spanisch, Chinesisch oder Arabisch am besten, womöglich eine osteuropäische Sprache. ‘Unser modernes Wirtschaftsleben ist schließlich auf den Austausch mit anderen Ländern ausgerichtet.’ Mit einer Latein-Schelte trieb die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände kürzlich Altphilologen landauf landab die Zornesröte ins Gesicht. Tenor: Die antike Sprache habe sich in der globalisierten Welt überlebt. Totgesagte leben länger, freut sich dagegen die Lateiner-Zunft, mancher gebraucht gar das ganz und gar unlateinische Wort ‘Comeback’. Denn die Schülerzahlen zeigen: Latein lebt.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes geht der Anteil der Lateinschüler seit Jahren nach oben, im Vergleich zur Jahrtausendwende um 30 Prozent. Im vergangenen Schuljahr lernten fast zehn Prozent aller Schüler die Sprache, mehr als 800000 Kinder – Platz drei hinter Englisch und Französisch, deutlich vor Spanisch (vier Prozent). Altgriechisch wird übrigens auf niedrigem Niveau konstant nachgefragt, von gut einem halben Prozent der Schüler. Rein auf die Gymnasien bezogen, Heimstätte der alten Sprachen, lernt im Schnitt jeder Dritte Latein. Wie eine Umfrage unter mehreren Kultusministerien zeigt, rechnet man im gerade beginnenden Schuljahr mit einer Stabilisierung des hohen Niveaus. Und das, obwohl das Latinum als Eintrittskarte an den Hochschulen sogar in klassischen Geisteswissenschaften oft nicht mehr nötig ist, zumindest für ein Bachelor-Studium.

‘Das Fach war eigentlich tot, die Schulen fingen bereits an, es zu demontieren’, sagt der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. Er interpretiert die Nachfrage mit dem gestiegenen Bildungsbewusstsein im bürgerlichen Milieu. Eltern suchten nach einem ‘Distinktionsmerkmal, einer Besonderheit im Bildungsportfolio ihres Kindes’. Da mittlerweile die Hälfte eines Jahrgangs die Hochschulreife erwirbt, erhoffe man sich da durch Latein einen Bildungsvorteil, eine Art ‘Abitur plus’.

Bei den Ursachen für den Anstieg klopft sich Bernhard Zimmermann dagegen lieber selbst auf die Schulter. Nachdem das Fach in den Achtziger- und Neunzigerjahren unter Druck geraten sei, habe man konsequent an den didaktischen Konzepten gearbeitet, sagt der Freiburger Professor und Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbands. Lateinunterricht wird tatsächlich immer moderner, der Zugang spielerischer, etwa mit Geschichten von Gladiatoren und Löwen, Projekten zur römischen Alltagsgeschichte, Comics auf Latein oder Wortneuschöpfungen wie ‘nexus retialis’ (Internet). Pädagogen, die wie ein Feldwebel das Konjugieren von Verben als qualvolles Exerzitium zelebrieren, finden sich kaum noch.

Dennoch erfordere Latein Disziplin bei Vokabeln und Grammatik – eben das sei ein starkes Argument, so Zimmermann. ‘Latein dient als Instrument, um die deutsche Sprache besser zu durchdringen und Fremdsprachen zu erlernen.’ Man trainiere Konzentration, die Kindern auch unter dem Einfluss neuer Medien mitunter abhandenkomme; und man lerne ‘Problemlösungskompetenz’, indem man sich einen lateinischen Satz sukzessive erschließe. Dieser ‘lange Atem’ stoße in der Wirtschaft auf Respekt – auch wenn es offiziell kaum jemand zugibt. Johann Osel