Quelle für Text und Bild: Süddeutsche Zeitung, 2.11.2011, S. 2, Aktuelles Lexikon
Griechenlands Finanzminister, Evangelos Venizelos, hat das Referendum über das Rettungspaket mit einem bedeutsamen Begriff begründet: Die Volksabstimmung sei ‘eine Katharsis in unserem Drama’, sagte Venizelos am Montag. Katharsis kennen viele Schüler aus dem Deutschunterricht. Dieser Begriff stammt aus Aristoteles’ Poetik, dem vielleicht folgenreichsten Buch über die Dichtkunst überhaupt. Aristoteles weist darin der Tragödie die Aufgabe zu, beim Zuschauer ‘Jammer’ und ‘Schauer’ zu erregen. Durch das Durchleben dieser beiden Emotionen käme es im Betrachter gleichsam zu einer Reinigung und Überwindung dieser Zustände. Der Katharsis wohnt also eine psychologische Komponente inne, was der Altphilologe Hellmut Flashar einmal so ausgedrückt hat: Sie sei ‘ein Brech- oder Abführmittel, das eine Erschütterung bewirkt, durch die ein Übermaß von Wärme oder Kälte besiegt und eine Ausscheidung hervorgerufen wird’. Viele Autoren haben später Aristoteles” Theorie verändert: Lessing zum Beispiel erweiterte den Katharsis-Begriff um das Tugendhafte: Die Affekte sollen nicht nur ‘ausgeschieden’, sondern veredelt werden. So eine Wirkung dürfte auch Athens Finanzminister im Sinn haben, wenn er dem Referendum eine Katharsis-Wirkung zuweist: Der Überschuss an Ablehnung im Volk könnte im Fall eines positiven Ausgangs dann endlich in Zustimmung umschlagen. hoc